Angesichts steigender gesellschaftlicher Erwartungen sollten Unternehmen ihren Fokus ausweiten – und damit bereits auf den kommenden Hauptversammlungen beginnen.
Die aktuelle Debatte zeigt: Angesichts zunehmender geopolitischer Spannungen wachsen die gesellschaftlichen Erwartungen an die Wirtschaft. Strenge Berichtspflichten für China-Geschäfte sind derzeit genauso im Gespräch wie „Outbound“-Investitionskontrollen. Denn die Ampelkoalition befürchtet, dass Abhängigkeiten neben den Unternehmen auch die Politik erpressbar machen. Geschäftsführer, Vorstände und Aufsichtsräte sollen nun verstärkt auf „Friendshoring“ setzen, also in befreundeten Ländern investieren.
Damit beschleunigt sich ein Prozess, der nach der Finanzkrise 2008 begann. Damals waren Bankmanager auf der Jagd nach schnellen Gewinnen hohe Risiken eingegangen, für die danach der Steuerzahler geradestehen musste. Ein einseitiger Fokus auf Profitmaximierung ist seither verpönt, Unternehmenschefs sollen gesellschaftliche Interessen berücksichtigen.
Dieses Stakeholder-Value-Prinzip hat es vielerorts in Sonntagsreden geschafft, aber noch nicht immer in die gängige Praxis. So beschäftigen Konzerne immer noch Scharen von Investor-Relation-Mitarbeiter, die Aktionäre intensiv betreuen. Dagegen hat der Austausch mit zivilgesellschaftlichen Organisationen und anderen Gruppen oft eine niedrigere Priorität und beschränkt sich teils auf Lobbyismus.
Das Stakeholder-Value-Prinzip verankern
Aufsichtsräte sind dann aufgerufen, auf Veränderungen zu drängen. Denn Stakeholder Value ist kein „Gedöns“, sondern betriebswirtschaftliche Notwendigkeit: Auch Kunden und Mitarbeiter erwarten immer öfter eine Unternehmensführung, die im Einklang mit gesellschaftlichen Werten steht.
Wer warmen Worten keine Taten folgen lässt, riskiert damit schmerzhafte Reputations- und Umsatzeinbußen sowie eine schwindende Attraktivität, insbesondere für junge Talente. Deshalb gilt es, den Austausch mit wichtigen gesellschaftlichen Gruppen im unternehmerischen Alltag zu verankern. Eine Chance dazu bietet sich jedes Jahr in der Hauptversammlungssaison: Warum laden Unternehmen neben Aktionären nicht auch Lieferanten, NGO-Vertreter, Politiker und Kunden ein?
Klar, Argumente dagegen sind schnell gefunden – etwa die formalen Vorgaben für Hauptversammlungen, der drohende Besucheransturm und die aufwändigere Vorbereitung. Aber ich bin überzeugt: Wer offen an die Sache rangeht und bereit ist, ausgetretene Pfade zu verlassen, kann die Hürden überwinden.
Chance auf neue Perspektiven und „Community Building“
So lassen das formale Korsett und der Zeitplan Spielraum, die Veranstaltungen rund um den offiziellen Teil für weitere Zielgruppen zu öffnen. Eine Option sind Podiumsdiskussionen mit ausgewählten Kunden, Geschäftspartnern oder NGO-Vertretern. Auch Panels zu verschiedenen Themen, an denen jeweils die verantwortlichen Top-Manager teilnehmen, würden sicher goutiert.
Und dann ist da noch die Frucht, die am tiefsten hängt und am leichtesten zu ernten ist: bessere Reden, mit denen Vorstands- und Aufsichtsratschefs mehr Menschen erreichen.
Noch nicht überzeugt? Dann lohnt sich ein genauerer Blick auf die drei Chancen, die Stakeholder-Treffen bieten:
- Erstens: Sie erhöhen die Glaubwürdigkeit von Entscheidern, die dem Shareholder-Value-Prinzip abgeschworen haben. Das wiederum stärkt die Reputation von Unternehmen und macht Marken attraktiver für Verbraucher, Fachkräfte und Talente.
- Zweitens: Ein intensiverer Dialog mit weiteren Zielgruppen kann neue Perspektiven eröffnen und aufschlussreiche Erkenntnisse liefern, um unternehmerische Strategien zu verbessern.
- Drittens: Wenn es gelingt, das Gemeinschaftsgefühl unterschiedlicher Stakeholder-Gruppen zu stärken, entsteht eine treue und tief in der Gesellschaft verankerte Community.
Fazit
Entscheider sollten bereits die diesjährigen Hauptversammlungen nutzen, um einen intensiveren Austausch mit der Stakeholder-Community zu beginnen. Das Argument, dass ein durch weitere Teilnehmer ein zu großer Besucheransturm droht, lässt sich leicht entkräften: Mit hybriden Formaten und neuer Technologie können Unternehmen diese Hürde leicht überwinden.
So können sie ausgewählte Kunden, Lieferanten und NGO-Vertreter einladen, persönlich zu kommen – und allen anderen ermöglichen, sich online einzubringen, etwa über Chat-Funktionen oder andere innovative Tools. Damit ließe sich dann gleich auch das Profil als vorangehendes und digitales Unternehmen schärfen.
Geschrieben von Daniel Schönwitz